... Und es geht doch!
(200 km Ultra-Lauf durch die Sahara)

Ultra-Lauf durch die Sahara in Süd-Algerien. Humanitäre Hilfsaktion für die Sahrawischen Flüchtlinge aus der Westsahara, die unter ärmsten Bedingungen nach der Vertreibung aus der Heimat ihr erbarmungsloses Schicksal seit über 28 Jahren ertragen müssen. Organisiert von der WHMF (World Humanitarian Marathon & Ultramarathon Foundation. Internet: www.whmf.org). Die WHMF ist eine gemeinnützige Institution und gibt alle Einnahmen 100% in die Hilfsprojekte ohne Profit einzustreichen.

Als weitere Motivation steht mein Selbsterfahrungs-Trip. Höllische Qualen sowie unendliche Glückseeligkeit. 200 km in drei Tagen. Eigentlich in zwei, da die erste Etappe 85 km und die zweite 105 km lang war. Der letzte Tag mit 10 km bemessen diente eher einem gemütlichen Schlussmarsch und gemeinsamen Zieleinlauf.

Wie besteht man so einen Extremlauf? Zunächst möchte ich den Menschen danken, ohne deren Hilfe ich dieses Abenteuer nie überstanden hätte. Den dt. Organisatoren Dr. Holger und Ulrike Finkernagel und den betreuenden Ultra-Arzt Said. Nicht zu vergessen alle Trainingspartner, Helfer und Freunde, die mir in der Heimat die Daumen drückten.

Zwei Dinge lernte ich in diesen Tagen. Zum einen, daß jeder Mensch mit eisernem Wille, Opferbereitschaft und starkem Kopf Berge versetzen kann und zum anderen, dass ich ohne Hilfe von außen diese Extrem-Leistung nie hätte absolvieren können.

Was war geschehen? 10 Tage vor dem Lauf bereits die Anreise in die Sahara, um die Organisatoren bei den Vorbereitungen des Ultras zu unterstützen. Beim Abfahren der Strecke mache ich mir nicht allzu große Sorgen. Die Strecke sah nicht so schwer aus und da ich in Biel 2002 die 100km schon über Nacht bewältigte, sollten 200 km in drei Tagen drin sein.

Doch die Wüste sollte mir noch Demut und Respekt lehren. Solche Ultra-Läufe haben immer ihre eigenen Gesetze. Einige Tage vor dem Start leide ich unter Durchfällen. Der Blick in den Spiegel verrät mir: So eingefallene Wangen hattest du noch nie. Wasser- und Energiemangel vor dem härtesten Lauf meines Lebens. Egal. Ich bin stark im Kopf. Das reicht schon. Von wegen!

Der Lauf startet am 25.2. Um 4 Uhr Wecken, um 5 Uhr Ultra-Beginn. 12 tapfere, zumeist sehr erfahrene, internationale Extremsportler (darunter eine Frau, die schon knapp 800 Marathons finishte) stellen sich einem der härtesten Ultras der Welt. Die Strecke führt durch die vier Flüchtlingslager Al Ayoun, Aouserd, Smara und dem Ziel Dahkla (Infos unter www.saharamarathon.info). In der Dunkelheit erhellen die Stirnlampen den Weg, der alle 500-1000 m durch Leuchtstäbe gut gezeichnet ist. Nach drei Stunden beginnt im Rennen mein persönliches Drama. Durchfälle in 40 Minuten-Takt. Taschentücher raus, Hose runter und in die Knie. Was für eine Prozedur. Mir schwindet zusehends die Kraft. Ein begleitender Fotograf schießt Bilder. Dafür spende ich ab und zu ein Lächeln. Langsam geht mir jedoch die Power aus. Die ersten Läufer ziehen schon nach 20 km vorbei. Walking Pausen schleichen sich vermehrt ein. Der 10 kg Rucksack (gefüllt mit Schlafsack, Isomatte, Esbit-Kocher, Topf, Taschenmesser, Notsignal, Pfeife und Spiegel, Aludecke, minimal 6000 Kalorien Pflichtkalorien sowie 1,5 Liter vesiegeltes Wasser für den Notfall, Anti-Schlangenbiß-Set, Kleidung, Mineraltabletten, Feuerzeug, Sicherheitsnadeln, Leuchtreflektoren, Leuchtstäben, Foto, Taschentücher, Sonnencreme, Medizin, Kabelbinder, Taschenlampe, Ersatzbatterien, Glücksbringer) wird immer schwerer. Die Nackenmuskulatur verspannt sich wie ein Drahtseil. Mein Körper zittert und friert. Ab diesem Zeitpunkt gehen Holger und Baldur Buchwald mit mir bis zum bitteren Ende. Mein Körper nimmt kein Essen mehr auf. Alles geht direkt durch ohne Verwertung. Wie soll ich das nur schaffen? Zwischen km 45 und 55 wird es schier unerträglich. Zur körperlichen Schwäche kommen jetzt noch die gnadenlosen Schmerzen der Blasen hinzu. Das Thermometer steigt auf 30 Grad. Alle 10 km erhalten wir 2 Liter neues Wasser. Die Distanz zur nächsten Verpflegungsstelle scheint mit jedem gelaufenen Meter länger als kürzer zu werden. Ich verzweifle, denke ans Aufgeben, würde es aber nie aussprechen. Zu stur mein Dickkopf, zu groß die Angst zu versagen. Das Ziel immer fest im Visier.

Keine Abwechslung in der Landschaft, keine schöne Dünen wie in den Hollywood-Filmen oder auf den Bildern aus den Büchern. Immer nur Horizont zu sehen, nichts bewegt sich in der Umgebung, die Schotter und Geröllpisten zerschneiden mir mit ihren Millionen Steinen die Füße. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes "steinreich"! Ich stolpere kraftlos, stürze aber nicht. Hohe Konzentration jede Sekunde und Schmerzen ertragen sind oberstes Gebot. Nur mit unbändigem Willen lässt sich der mental höchst anspruchsvolle Kurs bewältigen. Langweilig wird es bei Ultra-Läufen nie. Ich beschäftige mich mit den Qualen, meinem inneren Seelenleben, der Umgebung und dem immer wiederkehrenden Gedanken, vor Einbruch der Dunkelheit im Ziel zu sein. Der Wind bläst manchmal zart, manchmal heftiger von der Seite. Die Strecke ist bei Tageslicht mit Sand gefüllten Plastikbeutel gezeichnet, die mit einem roten Absperrband zugebunden wurden. Diese flattern wunderschön im Wind. Eine kleine Freude. Nicht aber, wenn man den Hals recken und strecken muss, um die nächste Markierung zu finden. Das kostet viel Energie und raubt den Mut. Bei starkem Sandsturm sind wir aufgefordert worden, auf der Stelle stehen zu bleiben, damit wir uns nicht verirren. Wann aber ist die kritische Marke erreicht? Manchmal sehe ich nichts mehr, Sekunden später ist wieder klare Sicht und die Sonne brennt mir auf den Pelz.

Das Läuferfeld zieht sich mit jeder Minute weiter auseinander und die pendelnden Streckenfahrzeuge sind teilweise längere Zeit nicht zu sehen. Sind die Jeeps dann neben uns, erhöht sich der Frust umso mehr, da die Kilometerangaben bis zum Ziel sich ständig widersprechen. Die Verständigung geht von spanisch über englisch, französisch und arabisch mit Fingerzeichen. Nach zehn Stunden endlich mal der Rote Kreuz Wagen. Die müssen es doch wissen! Noch 7 km. Gleich geschafft. Die Freude ist riesig. Ich will nicht mehr rennen, nur noch marschieren, Kräfte einteilen für den nächsten Tag. Die Spannung im Kopf löst sich und die Schmerzen sind für kurze Zeit vergessen. Dann der Schock. Ein paar Minuten später sagt ein Offizier vom Militär schonungslos in Spanisch: Noch 20 km, mas o menos! Wer hat Recht? Ich könnte heulen! Ich weiß, das Militär kennt die Strecke genau. Ein ständiges, emotionales auf und ab.

Ein Auto fährt nach einer zähen Stunde vorbei. Der Reporter vom Spiegel steigt aus (Bericht in der Ausgabe vom 2.3.2003 " Keine Bonbons im Gepäck"), interviewt uns. Wir fragen nach dem Kilometerstand. Er will ehrlich zu uns sein, uns damit aber nicht demoralisieren. Noch 10-15 km schätzt er. Oh, je! Zunächst erzähle ich ihm einige Standardantworten über Gefühle und Motivation, die ich zuvor in einigen Interviews und Berichten von mir gab. Da bricht es plötzlich aus mir heraus. Ich kann meine Tränen nicht mehr halten. Verspüre tiefe Dankbarkeit gegenüber meinen beiden Begleiter Holger und Baldur, ohne die ich vielleicht schon aufgegeben hätte. Dank auch an meine Schwester Daniela und allen meinen Freunden, die mich in meinen 27 Lebensjahren durch gute und schlechte Zeiten begleiteten. Mit dem Lauf will ich ihnen etwas zurückgeben. Sie sollen stolz sein auf mich und haben großen Anteil, dass ich mich mit den härtesten Menschen der Welt in dieses brutalem Lauf messen kann. Zuletzt ein Dankeschön an die WHMF (World Humanitarian Marathon & Ultramarathon Foundation), die mir die Chance gab, etwas in der Welt verändern zu können. Durch ihre humanitären Projekte möchten sie hindeuten auf die schrecklichen Zustände in vielen Gebieten dieser Erde und jedem Menschen zeigen, dass er mit einem kleinen Beitrag etwas Großes leisten kann. Hinschauen auf die Probleme, den Kopf nicht abwenden. Helfen!

Endlich das Etappenziel in Sichtweite. Ich bin fix und fertig. Der nächste Hammer folgt. Holger meinte, nicht täuschen lassen, das sei noch ein Stückchen. Mindestens noch eine Stunde. Mein Kopf senkt sich. Monotoner Blick auf die Steine, mit der Hoffnung, endlich anzukommen. Dämmerung. 100 Meter bis zum Ziel. Kein Endspurt! Wir haben es geschafft, wie, ist mir unerklärlich. 14 Stunden Dauerbelastung. Im Zelt ein Horror-Szenario. Ich breche zusammen, nichts geht mehr, zittere am ganzen Körper. Absolute Schmerzgrenze erreicht. Kann nicht mehr gehen und stehen. Krieche auf allen Vieren aus dem Zelt zum Pinkeln. Sehe die Blicke der anderen Läufer und Begleiter. Einige sind geschockt, alle haben Mitleid. Ich weiß, was sie denken, aber Gott sei Dank spricht keiner es aus. Sie sind sicher, mich eingeschlossen, dass ich die nächsten Tage keinen Schritt mehr aus dem Zelt machen werde. Keiner würde mehr fünf Cent auf mich wetten. Ich esse eine Kleinigkeit, schlafe zwei Stunden ein. Helfer ziehen mir Schuhe und Socken aus, geben mir eine Wollmütze und Decke. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Der Ultra-Arzt Said untersucht mich. Blutdruck O.K (120/80). Ruhepuls? 104, viel zu hoch! Vor einer Woche noch bei 39. Totale Dehydrierung. Kaum Wasser in den Körperzellen, Elektrolyt- und Mineralnotstand. Der Durchfall machte mich zu einem körperlichen, kraftlosen Wrack.

Ulrike Finkernagel liegt neben mir. Die treibende Kraft der Organisation und gute "Mutter der Kompanie". Sie sagt, ich müsse auch morgen auf der 105 km langen Mörderetappe für unseren Sponsor Mastercard finishen. Ja spinnt die denn? Ich weiß, dass ich in der Verantwortung stehe nach den Medienberichten und die Sponsoren für eine weitere Zusammenarbeit wohl keinen "Verlierer" unterstützen würden. Aber ich befinde mich gerade am absoluten körperlichen Tiefstand meines Lebens. Bin unglücklich, sauer. Gehe mit mir hart ins Gericht. Was mögen die anderen denken? Alle erfahrene Ultra-Läufer. Da krieche ich junger Hüpfer durch die Sahara, halb scheintot, war in Vorberichten schon im Fernsehen und in der Bildzeitung, ohne je was geleistet zu haben in diesem Extrem-Sport. Kein Respekt vor der Strecke. Null Erfahrung. Falsches Training? Überforderung statt Herausforderung? Erhalte ich jetzt die Quittung? War die psychische und physische Belastung zu groß?

Doktor Said erklärt mir die Lage. Es ist 24 Uhr. Noch 4 Stunden bis zum Wecken. Jeder andere Mediziner würde mich zwei Wochen Krank schreiben. Said ist selbst Ultra- und Wüstenläufer. Auf seiner alten, nicht mehr ganz weißen Mütze steht ein Werbeslogan der LBS "…und es geht doch". Er sagt, es sei sehr kritisch, aber wir hätten noch eine Minimalchance. Positives denken bis zuletzt. Ich erhalte Infusionen, Elektrolytgetränke, Tabletten und Schmerzmittel. Die unzähligen Blasen an den zermürbten Füßen schneidet er mir auf, versorgt sie. Dann die Nadel gelegt und ab mit der Medizin in die Blutbahn, Die Infusionsflasche hängt am Gestänge des Zeltdaches. Said lacht, erzählt, er würde erst nervös werden, wenn ich drei Minuten vor ihm läge mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Na, dann bin ich ja beruhigt, muss selbst kurz lachen. Ich zittere wieder, habe Schüttelfrost und erhöhte Körpertemperatur. Insgeheim hoffe ich, dass er mich aus dem Rennen nimmt. Doch er schweigt, will bis zum Start warten.

Was in den folgenden Stunden geschieht, ist mir aus sportwissenschaftlicher Sicht unerklärlich. Die Akku-Batterien meines Körpers wurden so aufgeladen, dass ich zumindest mit letzter Mühe mich anziehen kann und auf wackeligen Beinen, immer noch zitternd, am Startbereich um 5 Uhr stehe. Der Wind weht heftig, es ist sehr kalt, um die 3 Grad. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Werde wohl nach 5-10 km aus dem Rennen genommen werden. Holger, 33 Jahre älter als ich und sehr erfahren im Ultra-Bereich, flüstert mir ins Ohr, dass wir die "härtesten Hunde" seien, wenn wir diesen Tag überstehen würden. Ich registriere das, es motiviert mich, doch realistisch gesehen rechne ich mit einem baldigen, finalen Einbruch.

Der Lauf beginnt. Es ist der 26.2.2003. 105 km liegen vor uns. Für mich wohl weniger. Doch da geschieht das Wunder. Unser Medizinmann "Miraculix" Said hat phantastisch gearbeitet, den Rest leistet mein Kopf. Mit jedem Meter gelangt mehr Stärke in meinen Körper. Der Durchfall ist weg. Das Zittern verschwindet. Das Phänomen "Menschlicher Körper" überrascht mich wieder aufs Neue. Dachte ich noch tags zuvor, durch meine Zielankunft Übermenschliches geleistet zu haben, so beginne ich nun sogar im höheren Intensitätsbereich zu laufen, immer mit Blick auf die Pulsuhr. Trotz Euphorie soll der Puls nicht über 160 gehen. Die Gefahr der Azidose (Übersäuerung der Muskulatur) wäre zu groß und mit einem Schlag wäre alles beendet. Mein Tempo bleibt konstant, ich nähere mich nach 30 km dem Höhepunkt der Strecke, Moon Valley, einem traumhaften Wüsten-Tal, mit Dünen und abwechslungsreichen Felsstrukturen. Meine Carbo-Shotz und Energie-Riegel bleiben im Körper. Mein Magen brennt immer mehr, wenn ich etwas esse. Es ist ein angenehmes Gefühl. Ich stelle mir bildlich vor, wie mein Inneres bei jeder verbrannten Kalorie ein Freudenfeuerwerk anzündet. Ich habe ständig Heißhunger auf Eiweiß, die Bifis in meiner Bauchtasche sind Gold wert. Die Kraft kehrt zurück. Die Qualen der Strecke machen mir nichts mehr aus. Im Gegenteil. Vielleicht bin ich masochistisch veranlagt, doch ich lerne den Schmerz lieben. Die Evolution und die Natur aus dem Menschen ein Meisterwerk gemacht. Wie schlau, bei Streß -und Extremsituationen Adrenalin, Cortisol und andere Substanzen auszuschütten, um die Schmerztoleranz nach oben zu setzen. Minutenschnelle Anpassungen in kritischen Situationen. Die Maschine läuft……..und es geht doch!

Fast die gesamte Strecke lege ich alleine zurück. 20 km im Moon Valley, vorbei an der Kamel-Karawane, die mit einem Team-Lauf parallel zu uns läuft. Da sind alle Teilnehmer versammelt, die am 24.2. den Marathon, Halbmarathon, das 10 km und 5 km Rennen in Smara bestritten. Italiener, Spanier, Portugiesen, Holländer, Amerikaner, Österreicher, Schweizer, Sahrawis und die deutsche Gruppe. Zusammen ungefähr 350 an der Zahl.

Im Moon Valley tolle Landschaft, aber auch tiefer Sand. Gegenwind peitscht ins Gesicht. Die Schönheit und Härte der Wüste prallen aufeinander. Einige Läufer überhole ich, stehe sogar an dritter Stelle. Die Läufer, die Polizei, das Militär, die Ärzte und alle anderen Streckenposten staunen und zollen mir Respekt. Ein Sahrawi erzählt, dass selbst ihre Kamele nicht so lange Strecke ohne Pausen laufen könnten und klatscht Beifall. Ich genieße die Anerkennung. War wohl doch nicht alles so falsch, was ich im Training und in der Vorbereitung unternahm. Das Krafttraining machte mich hart und lehrte mich, Schmerzen zu tolerieren um das vorgenommene Ziel zu erreichen. Die langen Läufe morgens in der Dunkelheit mit Gepäck legten die physiologische Basis, obwohl ich wegen Arbeit und Uni meistens nur auf 100 Wochenkilometer kam, selten mal auf 150 km.

Meine Gedanken kreisen häufig um mein Lieblingsbuch "Der Alchimist" von Paul Coelho. Ich versuche die Zeichen zu deuten, die mir die Wüste gibt. Kommuniziere mit dem Wind. Bei jedem kräftigen Windstoß in den Rücken heißt es wieder antraben, in den Laufschritt kommen. Genug Gehpause. An einigen Punkten der Wasserversorgung bleibe ich kurz stehe, fülle Wasser in meine Flaschen nach. Insgesamt trinke ich an diesem Tag, der über 35 Grad Hitze bietet, mehr als 20 Liter Wasser. Die Pausen sind Gift für meine Knie. Die Schmerzen werden so stark, dass ich einige Minuten das rechte Bein nur gestreckt bewegen kann und humpele. Danach sind die Gelenke wieder geschmiert. Der Maschine rollt.

Die Streckenposten geben wieder völlig widersprüchliche Kilometerangaben von sich. Aber heute ist mir das egal. Ich weiß, dass ich gut ins Ziel komme. Was soll mich da noch ärgern? Mitleid habe ich mit den Soldaten, deren Grundausbildung in Zukunft wohl anders aussehen wird, nachdem die Kommandeure sahen, was man in der Wüste mit Gepäck bewältigen kann. Immer wider frage ich nach Holger, der einen schweren Tag hat und weit hinten hart kämpfen muss. Dieser Mann ist unglaublich. 60 Jahre pure Energie. Der würde bei seinem eigenen Rennen nie aufgeben. Tatsächlich kommt er spät in der Nacht ins Ziel. Ich freue mich unbeschreiblich, hat er mir doch tags zuvor durch meine schwere Krise geholfen. Wir sind wahrlich alle harte Hunde.

Das Ziel naht. Nils Finkernagel, der eine Reportage über diesen Lauf macht, begleitet mich die letzten 15 Kilometer. Wir sprechen viel, eine angenehme Abwechslung. Im Etappenziel angekommen keimt große Freude in mir auf. Das war es. Knapp 14 Stunden wieder unterwegs, obwohl die Strecke 20 km länger war. Zum ersten Mal im Leben bin ich 100 % stolz auf meine sportliche Leistung. Das war Spitzensport pur auf höchstem Niveau.

Morgen noch die letzten 10 Kilometer im gemeinsamen Marsch. Die Strecke schweißt die Läufer zusammen. Kameradschaft und viel Hilfe untereinander, jeder unterstützt den anderen. Eine einzigartige Atmosphäre. Nils schießt einige Fotos von mir. Auf meinem Rücken sind die Striemen von den Trägern meines Rucksackes tief eintätowiert. Man kann die komplette Wirbelsäule erkennen. Die Halswirbel stehen stark heraus. Kein Gramm Fett mehr an meinem Körper. Die Füße voller Blasen. Macht ja nichts. Das gehört dazu.

27.2.2003. Ausschlafen bis 9 Uhr. Um 10 Uhr der Start zu den letzten 10 Kilometer nach Dahkla. Wir laufen in der Reihenfolge der Rangliste ein. Sieger Kim Rasmussen aus Dänemark, dann Fabi aus Italien. Dritter wird der Österreicher Ambros, gefolgt von mir. Mit Abstand bin ich der jüngste Teilnehmer im Ziel über die komplette Distanz, dazu bester Deutscher. Tolles Ergebnis bei meinem ersten Extremlauf. Doch die Platzierung ist mir völlig egal, Hauptsache alles gut überstanden und alle Läufer gesund, wenn auch einige früher aussteigen mussten. Ihnen gilt mein besonderer Respekt, war ich ja selbst ganz knapp vor der Aufgabe am ersten Tag.

Im Zielbereich ein berauschender Empfang, die Kamel-Karawane und tausende Sahrawis klatschen, singen, schwenken ihre Fahnen, machen eine unvergessliche Stimmung. Ein Wahnsinnsgefühl. Ich genieße es, trabe langsam ein, mir wird die deutsche Fahne zugesteckt, ich schwenke sie, strahle, bin überglücklich. Im Ziel Interviews und Fotos mit der kleinen Wiskey-Flasche Jack-Daniels, die ich 200 km durch die Wüste transportierte. Dieses Foto ist meinem Kumpel Andy gewidmet, der mir spaßeshalber empfahl, das edle Getränk den Elektrolyten vorzuziehen, um es ins Ziel zu schaffen. Dazu ein kühles Heineken-Bier von Begleiter der UNO gestiftet. Das zischt. Erfrischend. Kurz darauf Siegerzeremonie, Medaillenverleihung, Geschenke (Teppiche und Schals, die 82 Familien in Dahkla ein besseres Einkommen ermöglichten).

Selbsterfahrung pur. Tiefe Glückseeligkeit, Freude, Stolz. Ich konnte viele Erfahrungen sammeln, die für mein weiteres Leben von großer Bedeutung sind. Ich lernte, Hilfe anzunehmen und die Stärke meines Körpers zu entdecken. Verbunden mit der Möglichkeit, die Probleme der Sahrawis in der Westsahara in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken, zumindest für einen kurzen Moment. Jeder Euro, den wir für die humanitären Projekte sammeln konnten, waren alle Qualen, Strapazen und Schmerzen dieses Rennens wert. Noch sind meine Füße angeschwollen mit Lymphflüssigkeit, entzündete Stellen, Blasen. Aber das vergeht schnell. Was ewig bleibt ist die Erinnerung in meinem Herzen!

Oliver Knobl

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