Das Drama des Dorando Pietri

London 24. Juli 1908 - Ein Bild, eine Geschichte. Ein kleiner ausgezehrter, fast greisenhaft, müder Mann in einer viel zu weiten Hose. Umringt von aufgeregten Männern, die Schnauzbärte und Strohhüte tragen, wankt er toten Auges einem Ziel entgegen, das einige letzte Schritte zu weit weg ist. Es ist der kollabierende Dorando Pietri - das Bild, das zur ersten fotografischen Sensation der Sportgeschichte wurde.

9:46,4 Minuten braucht Pietri für die letzten 355 Meter des Marathonlaufes 1908 in London. Er taumelt, stürzt, kämpft sich hoch, stürzt. Er ist entsetzlich und doch fazinierend, dieser Kampf zwischen einem gesteckten Ziel und einer erschöpften Gestalt. Die kleinen roten Beine, das ausgezehrte, gelbe Gesicht, die glasigen, ausdruckslosen Augen des Delinquenten in diesen endlosen Minuten.

Der unbekannte Fotograf verfolgt das Drama, doch er muss sein Pulver noch trocken halten. Die mobile Kleinbildkamera ist noch nicht erfunden. Er muss mit seiner gewaltigen Stativkamera, aufgestellt knapp hinter der Ziellinie, fast zehn Minuten ausharren, in der Hoffnung, sein Motiv schaffe es bis dorthin. Das Warten lohnt sich. Sein Foto, unendlich oft veröffentlicht, häufig verfälscht, gern retuschiert, wurde zum bleibenden Dokument eines Ereignisses, das schon fast alle Elemente vorwegnimmt, die das Sportjahrhundert prägen sollten: Spektakel und Starkult, Grenzerfahrung, Doping und Profitum, expressive Kraft des Bildes und sentimentale Tragik de Scheiterns.

Der 24. Juli 1908 ist ein heisser Tag, ganz anders als der verregnete Rest jenes englischen Sommers. Der junge Prinz Albert sammelt Autogramme bei den 56 Läufern, die kurz vor 14:30 Uhr auf den Start des Marathonlaufes am Schloss Windsor warten. Das Rennen wird nach dem Willen der königlichen Familie dort begonnen, damit die Prinzessinnen und Prinzen den Start von der Ostterrasse des königlichen Schlosses beobachten können. Bis zur Loge im Stadion im Shepherd's Bush, in dem Königin Alexandra die Zielankunft erwartet, sind es dadurch nicht 40 Kilometer, die bis dahin übliche Marathon-Entfernung, sondern 42,195 Kilometer - eine Distanz, die erst 13 Jahre später für den Marathon verbindlich gemacht wird.

Für Pietri wird die Strecke um ein paar dieser 2195 Extra-Meter zu lang sein. Der 22-jährige Zuckerbäcker aus Carpi bei Modena hat sich auf übliche Art für das Rennen gestärkt, mit einem blutigen Steak und einem starken Kaffee. Außerdem verpasst ihm sein Betreuer einen Schluck Strychnin, vermischt mit Brandy - ein bei frühen Marathons beliebter Stärkungscocktail, den man heute entweder als ungewöhnliches Doping oder als ungewöhnlichen Selbstmord ansähe. Während des Rennens wird Pietri nichts mehr zu sich nehmen, nicht mal einen Schluck Wasser.

Favoriten sind andere, vor allem der kanadische Indianer Tom Longboat, der aber mit seiner eigenartigen Renneinteilung (scharfe Zwischenspurts wechseln mit längeren Geh-Strecken ab) nichts reüsieren kann - er wird noch vor Pietri im Stadion ankommen, aber in dem motorisierten Bus, der die Geschlagenen, mehr als die Hälfte des Feldes, aufsammelt. Auf den ersten Meilen liegen Briten vorn, was bei den hunderttausenden Menschen an der Strecke Jubel auslöst. Es sind die Spiele, bei denen Olympia erstmals vom Rand zum Massenereignis geworden ist. Im vollgepackten Stadion warten mehr als 70 000 Zuschauer auf den Höhepunkt der Wettkämpfe, den Zieleinlauf im Marathon. Von der Strecke werden in größeren Abständen Zwischenstände ins Stadion telefoniert, wo sie von einem Mann mit Megaphon in Richtung der Königlichen Loge verkündet werden.

Auf halber Marathonstrecke sind die Briten aus dem Rennen, trotz des süßen Muskatellerweins und den rohen Eier, die sie sich unterwegs eingeflößt haben. Vor Pietri läuft nur noch der Südafrikaner Charles Hefferon. Hinter ihm arbeitet sich gleichmäßig der Amerikaner John Hayes heran, der offiziell als Laufbursche beim New Yorker Kaufhaus Bloomingdale's beschäftigt, in Wirklichkeit aber als Laufprofi bezahlt wird. Kurz vor dem Stadion hat Pietri den erschöpften Hefferon eingeholt und überflügelt ihn mit seinem ersten Spurt im gesamten Rennen. Die Zuschauer im Stadion erfahren davon nichts, doch sie spüren, dass die Kolonne sich nähert, die Entscheidung naht.

Jedes Auge ist auf den Eingang gerichtet. Und dann kam er. Aber welcher Unterschied zu dem jubelnden Sieger, den man erwartet hat! Aus dem dunkeln Torbogen taumelte ein kleiner Mann in roten Rennhosen, eine winzige, jungenhafte Kreatur. Pietri verlassen in dem Moment die Kräfte, da er die Arena betritt. Er hört nicht auf die Anfeuerung der Menschen, hört nicht die Blaskapelle, die "The Conquering Hero" angestimmt hat. Er läuft in die falsche Richtung, wird von den Kamprichtern umgelenkt. Stürzt, rappelt sich hoch, umringt von Menschen, stürzt wieder. Kriecht mehr, als er läuft. Stürzt zum dritten Mal, bleibt liegen, wenige Meter vor dem Ziel, genau vor den Augen der Königin.

Ein Aufschrei: Hayes kommt leichten Schrittes ins Stadion gelaufen. Die Amerikaner sind unbeliebt bei diesen Spielen. Ihr Fahnenträger Martin Sheridan hatte sich geweigert, die Stars and Stripes vor der Königlichen Loge, wie vom Protokoll der Eröffnungsfeier gefordert, zu senken: "Diese Fahne senkt sich vor keinem irdischen König." Doch dass 100 000 Briten nun den Italiener Pietri als Sieger sehen wollen, hat nichts mehr mit amerikanischer Antipathie zu tun - man will diesen kleinen Mann nicht so tragisch verlieren sehen. So erhält er nun die Hilfe,die ihn ins Ziel bringt, aber den Sieg kostet.: Renn-Organisator Jack Andrew, der Mann mit dem Megaphon, und der Arzt Dr. M.J. Bulger helfen ihm nochmal und geleiten Pietri über die Linie.

34 Sekunden später, die Laufbahn ist noch voller aufgeregter Menschen, läuft Hayes durchs Ziel, ohne groß beachtet zu werden. Alles umringt Pietri. Nach zehn Minuten Erholung setzt man den Italiener in ein Taxi, das ihn in sein Quartier in der Church Street Nr. 8 bringt. Dort gibt er eine kurzatmige Pressekonferenz - und erfährt, dass er "wegen unerlaubter Hilfe" disqualifiziert worden ist. "Aber ich habe doch gewonnen?", stammelt er nur. Aber nicht er, sondern Hayes erhält den vom griechischen König gestifteten Siegespreis. Es ist die Statue eines sterbenden Kriegers, die fortan bei Bloomingdale's im Schaufenster steht.

Pietris Paradoxon lautet: Es ist eben diese Niederlage, die ihn zum Gewinner macht. Als Trost für die Disqualification spendet Italiens Königin Alexandra einen Goldpokal für den Pechvogel. Sir Conan Doyle - der Schriftsteller und ein an Sport interessierter Arzt - initiiert mit einer Spende von fünf Pfund eine Sammlung unter Zeitunglesern von der "Daily Mail", die mehr als 300 Pfund einbringt. Ein Scheck des Lokals Romano, The Strand, London, trifft ein: 22 Pfund von Kunden und Bediensteten. In seinem Heimatort Carpi sammeln Pietris Landsleute 1496 Lire. Und so weiter. Von den zahlreichen Spenden kauft er sich einen Bäckerladen.

Doch nicht nur das Mitleid zahlt sich aus. Seine Geschichte geht um die Welt, und prompt ist Pietri gut im Geschäft. Noch in London unterzeichnet er einen Profivertrag mit dem New Yorker Promoter Breyr, der am 25. November 1908 im ausverkauften Madison Square Garden Pietri und Hayes zu einer Olympia-Revanche zusammenbringt. Pietri gewinnt nach der Marathon-Distanz von 262 Runden, was ihm 10 000 Lire einbringt. Nur drei Wochen später verliert er an derselben Stelle gegen den Indianer Longboat. In 67 Profi-Rennen bis 1911 verdient Pietri genug, um das "Hotel Carpi" zu eröffnen. Er geht später Bankrott, kann sich aber wenigstens noch eine kleine Autowerkstatt in San Remo leisten. Dort ist er 1942, im Alter von 56 Jahren, gestorben.

Das sind immerhin 34 geschenkte Jahre. Pietri hätte auch mit 22 sterben können, ausgezehrt von Hitze, Wassermangel, Strychnin und Ehrgeiz, so wie vier Jahre später der Portugiese Francisco Lazaro die Stockholmer Mittagsglut nicht überlebte - der erste olympischen Marathon-Toter. Schon vier Jahre zuvor in St. Louis war der Amerikaner William Garcia kollabiert und in einem Straßengraben gestürzt, wurde aber noch rechtzeitig gefunden und wiederbelebt. Sir Conan Doyle hat Pietri schon am Tag nach seinem großen Rennen ein paar Zeilen gewidmet, die sie wie ein früher Nachruf lesen: "Kein Römer der großen Zeit hielt sich besser als Dorando. Der große Stamm ist noch nicht ausgerottet."

Die Zeit der athletischen Heroisierung, der sportlichen Globalisierung war angebrochen. Die Bühne des Sports löste das antike Drama ab, mit dem Kollaps eines mageren Mannes vor den Augen einer Königin, eines berühmten Dichters und eines namenlosen Fotografen.